===== LE08: Digitale Geomedien II ===== Die folgende Lerneinheit thematisiert erkenntnistheoretische Hintergründe in Verknüpfung mit Volunteered Geographic Information (VGI). ==== Inhalte ==== Volunteered Geographic Information (VGI) ist die Erhebung, Verwaltung, Analyse und Präsentation von Geodaten durch Freiwillige, die diese Geoinformationen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. In den letzten Jahren ist es durch die Entwicklung von benutzerfreundlichen Anwendung zu einer Vielzahl von Aktivitäten im Bereich VGI gekommen. Ausgehend von Habermas (1965) und seiner Klassifizierung der konstitutiven Erkenntnisinteressen von Wissenschaft (technisch, praktisch und emanzipatorisch) wird in dieser Lerneinheit der Frage nachgegangen, welches geographische Wissen und welche geographischen Erkenntnisinteressen durch welche geomedialen Crowdsourcing-Anwendungen gefördert werden und welche nicht. ==== Materialien ==== *[[courses:studierende:l:s-fachdidaktik:arbeitsblatt:ab07-1|AB08-1: Digitale Geomedien II]] ===Lernergebnisse und Kompetenzen=== Nach Abschluss der Lerneinheit können Sie *die wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen nach Habermas benennen und *Crowdsourcing-Anwendungen hinsichtlich der Erkenntnisinteressen nach Habermas bewerten. ====Volunteered Geographic Information und Erkenntnisinteressen ==== Volunteered Geographic Information (VGI) ist die Erhebung, Verwaltung, Analyse und Präsentation von Geodaten durch Freiwillige, die diese Geoinformationen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Goodchild (2007) spricht in diesem Zusammenhang von [[https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s10708-007-9111-y.pdf|„Citizens as sensors“]], d.h. im übertragenden Sinn, dass Freiwillige Experten für lokale Sachverhalte sind und somit Informationen auf einer kleinen Maßstabsebene besonders gut erheben können und diese der Allgemeinheit zur Verfügung stellen können. Ein besonders herausragendes Projekt ist in diesem Zusammenhang „OpenStreetMap“. Das OpenStreetMap-Projekt wurde 2004 mit dem Ziel ins Leben gerufen eine freie Weltkarte zu erstellen, da Geoinformationen selten frei zugänglich sind. Der Kern des Projektes ist eine Datenbank mit georeferenzierten Daten, auf der man sich registrieren muss und dann als Freiwilliger mittels GPS räumliche Daten erhebt und diese dann in das System einpflegen kann. Die dadurch entstehenden Karten sind frei verfügbar und können in Webseiten und Navigationssysteme eingebunden werden. Mittlerweile gibt es über 1,5 Millionen Nutzer, die insbesondere für die westliche Welt Kartengrundlagen erstellt haben, die den amtlichen Kartenwerken hinsichtlich der Qualität gleichwertig sind. Hiermit wird deutlich, dass geographisches, räumliches und ortsbezogenes Wissen nicht mehr ausschließlich von Experten zur Verfügung gestellt wird. Freiwillige auf der ganzen Welt erstellen im Rahmen von Katastrophenkartierungen digitale Karten für den zeitnahen Einsatz vor Ort, um die Nothelfer zu unterstützen (https://hotosm.org/). Naturinteressierte Laien dokumentieren Tier- und Pflanzenfunde georeferenziert und stellen die Daten dem amtlichen Naturschutz zur Verfügung (www.artenfinder.rlp.de). Kommunalpolitisch interessierte Bürger können sich vernetzen, um ihre Stadt zu gestalten (https://www.ffm.de). Für die geographische Bildung bedeutet dies, dass neue Mechanismen entwickelt werden müssen, um geographisches Wissen zu bewerten, zu erheben, zu speichern und schlussendlich auch zu präsentieren. Geographisches Wissen bzw. geographische Erkenntnisinteressen sind jedoch nicht neutral. Jeder Erkenntnis liegt ein Interesse zu Grunde. Ausgehend von Johnstons (1986) Wissenschaftstypologie stellen Morgan und Tidmarsh (2004, S. 190 f.) fest: “Geographical knowledge is not neutral. In its scientific forms, it can be used to represent natural and social phenomena objectively as things, subject to manipulation, management and exploitation. In its humanistic forms, it can express people’s individual and collective hopes and fears and relations to places and environments. In its critical forms, it can be used in political and social struggle.” Diese Typologie weist Ähnlichkeiten mit dem von Habermas (1965) entwickelten Ansatz der konstitutiven Interessen von Wissenschaft auf. Habermas unterscheidet hierbei zwischen *Technischen Erkenntnisinteressen *Praktischen Erkenntnisinteressen *Emanzipatorischen Erkennisinteressen Vor dem Hintergrund dieser Klassifizierungen stellt sich dann auch die Frage, welches geographische Wissen und welche geographischen Erkenntnisinteressen durch digitale geomediale Anwendungen im geographischen Bildungsbereich gefördert werden und welche nicht. Generell ist festzustellen, dass viele Anwendungen, wie z.B. GI-Systeme, Computersimulationen und Web- GIS, die Tendenz haben, die Welt als eine Ansammlung von objektiven Informationen darzustellen. Faktoren, wie z.B. Macht, Gefühle und Ästhetik, die im Leben oftmals eine entscheidende Rolle spielen, werden kaum berücksichtigt. Folglich verwundert es auch nicht, wenn Morgan und Tidmarsh (2004) zu dem Schluss kommen, dass die Art und Weise, wie geomediale Anwendungen im Bildungsbereich thematisiert werden, eindeutig verknüpft ist mit einer bestimmten Sicht auf Geographie, bei der positivistische und technische Fragestellungen im Mittelpunkt stehen und praktische und emanzipatorische Erkenntnisinteressen kaum berücksichtigt werden. In dieser Lerneinheit wird der Frage nachgegangen, welches geographische Wissen und welche geographischen Erkenntnisinteressen durch welche geomedialen Crowdsourcing-Anwendungen gefördert werden und welche nicht. Hierfür werden folgende Anwendungen analysiert: https://hotosm.org/, www.artenfinder.rlp.de und https://www.ffm.de. Sie werden zum einen Erkennen, dass eine Crowdsourcing-Anwendung durchaus unterschiedliche Formen von geographischen Erkenntnisinteressen gleichzeitig beinhalten kann bzw. die Übergänge auch fließend sein können. Zum anderen wird Ihnen die Analyse auch aufzeigen, dass schon durch die mediale Schnittstelle des Plattformdesigns Einschränkungen bzgl. der Generierung bestimmter Wissensformen entstehen, die wiederum das Handeln der in den Anwendungen agierenden Akteure prägen. Mit anderen Worten: Das soziotechnologische Interface muss Interaktionen zwischen den Teilnehmer/-innen, wie z.B. gegenseitiges Kommentieren und Bewerten und soziale Netzwerkfunktionen anbieten, um praktische und emanzipatorische Erkenntnisinteressen zu fördern. ===Literatur:=== Habermas, J. (1965), „Erkenntnis und Interesse". Frankfurter Antrittsvorlesung vom 28.6.1965. In: Merkur, 19, S. 1139-1153. Johnstons, R. (1986): On Human Geography. Oxford. Morgan, J. und C. Tidmarsh (2004): Reconceptualising ICT in Geography Teaching. Education, Communication und Information 4 (1), S. 177-192